In Somalia starben Dutzende an Cholera und es droht eine Hungersnot, der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich spitzt sich zu, das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa wird auf die Prüfung gestellt und – ach ja, da wäre noch diese Sache mit Trump. In der idealen Welt des Qualitätsjournalismus erhalten diese Inhalte die meiste Aufmerksamkeit der UserInnen.
Die meistgelesene Geschichte auf derStandard.at war gestern aber jene über ein „altes Pizzafoto von Norbert Hofer“. Das löst eine Vielfalt an Reaktionen bei Medienmachern aus: Was ist nur aus dem Journalismus geworden? Zerstört Social Media jegliche Möglichkeit zu ernsthaftem Diskurs? Sind unsere LeserInnen womöglich doch nicht die hyperreflektierten Intellektuellen, wie wir sie uns so gerne vorstellen? Warum investieren Journalisten Zeit für so eine Meldung?
Alles berechtigte Fragen, wie Debatten um Fake News, Filter Bubbles oder die Gatekeeper-Funktion der Medien beweisen. Gleichzeitig ist große Besorgtheit bei Ausreißern wie dem #Pizzagate meiner Meinung nach nicht nötig, und zwar aus mehreren Gründen.
Daten sind nicht der Feind
Das Leseverhalten der User können wir zwar schon einige Jahre lang analysieren, diese Zahlen werden aber immer noch gerne ignoriert oder nur dann genauer betrachtet, wenn unliebsame Ausreißer wie Norbert Hofers Pizza eintreten – und zwar um zu beweisen, dass der Online-Kulturpessimismus berechtigt ist. Ein Vergleich: Bei Printprodukten kann außer durch aufwändige Leseflussanalysen mit wenigen Probanden nicht festgestellt werden, welche Geschichten am meisten gelesen werden.
Die Ernüchterung, die eintritt, wenn womöglich die kleinen Kästchen mit banalen Kurzmeldungen wie „Katze nach fünf Tagen von Dach gerettet“ häufig konsumiert werden, ist nachvollziehbar. Sie sagt aber mehr über die Erwartungshaltung an die LeserInnen aus als über den Sittenverfall der LeserInnen selbst. Ein wenig Eigenbeobachtung kann zur Relativierung manchmal nicht schaden: Welche Artikel habe ich heute Morgen wirklich gelesen? Und über welche spreche ich mit meinen Freunden? Wenn gerade keine Breaking News passieren, sind es hin und wieder auch die etwas weniger komplexen, um es höflich auszudrücken.
Die Liebe zum Banalen wird den Journalismus nicht umbringen
Denn diese Zahlen zeigen lediglich, worüber „man spricht“. Das sind Inhalte, zu denen man ohne lange Recherche eine Meinung haben kann, die oft auch amüsant sind, aufregen oder einen persönlich betreffen. Solche Inhalte fanden immer schon in größerem oder kleinerem Ausmaß in die Medien, heute können wir das lediglich besser analysieren und visualisieren.
Oft werde ich von StudentInnen für Interviews für Bachelorarbeiten gefragt, ob Berichte über solche „Gesprächsthemen“ und deren Verbreitung über Social Media den Qualiätsjournalismus gefährden. Meiner Meinung nach tun sie das nur, wenn deshalb weniger über ernste und komplexe Geschehnisse auf der Welt berichtet wird. Und genau da sind Qualitätsmedien in der Verantwortung, das nicht geschehen zu lassen.
Dürfen Qualitätsmedien „Gossip“ bringen?
Dass es zusätzlich zur ernsten Berichterstattung kurze Meldungen gibt, die viele User teilen, kann derzeit sogar eine wichtige Säule des Geschäftsmodells von kostenlosen Online-Medien sein (wobei das wieder eine andere Diskussion ist). Dabei kommt es hauptsächlich darauf an, zu entscheiden, was meldenswert ist und wie die Geschichte erzählt wird. Im Falle Hofers könnte man argumentieren, dass das Pizzafoto so banal gar nicht ist, weil ein Politiker einer offensichtlichen Lüge überführt wurde. Es findet derzeit ein Shift von der Aufgabe der „Chronistenpflicht“ im Journalismus hin zur „Diskursabbildung“.
Es gibt Hoffnung: Die Leserschaft ist bunt
Vergessen sollten wir aber auch nicht, dass an vielen Tagen gerade nicht die Pizza von Norbert Hofer „herumgereicht“ wird, sondern eben ein ernster Aufmacher, etwa aus dem Ressort International oder Inland. Viel Verweildauer können lange Reportagen, Hintergrundberichte, Analysen, Kommentare mit vielen Postings im Forum aufweisen. Eigentlich schön, denn das ist die Leserschaft, die man sich so gerne vorstellt. Dass die gleiche auch gerne unterhalten wird oder sich auch mal über ein Facebook-Foto empört, macht sie nur vielfältiger. Aber darüber kann man sich schlecht aufregen.