Liveticker: Kollektives Erleben als Qualität

Dieser Text erschien ursprünglich auf derStandard.at.

Warum das Format Liveticker keineswegs ein journalistischer Verzweiflungsakt ist. Eine Lobpreisung

In der aktuellen Ausgabe der deutsche Wochenzeitung “Zeit” beschwert sich Kilian Trotier darüber, dass Online-Medien seit Monaten den Liveticker als neue Form der Berichterstattung testen würden. Für ihn ist das ein klares Zeichen des Hinterherhechelns, ein verzweifeltes Aufholenwollen und Kopieren der sozialen Medien.

“Wie nirgends sonst wird in ihm (dem Liveticker, Anm.) die Zerrissenheit des modernen Journalismus deutlich: Er muss die Angebotsformen für sein Publikum maximal diversifizieren und den Geschwindigkeitsrausch der neuen Taktgeber mitmachen, bis es nicht mehr schneller geht. Er muss beim Schritthalten mit der Ereignismoderne alle reflexive Distanz einziehen und das aktuelle zum Absoluten machen – auch wenn er weiß, dass er seine einstige Deutungsmacht am allerwenigsten mit Fast-Food-News im Liveticker-Format zurückgewinnen wird”, heißt es bei Trotier.

Der Journalismus und hier insbesondere der Online-Journalismus geht also laut Trotier mehr oder weniger den Bach hinunter, und der Liveticker ist eines der vielen Zeichen dafür. Dabei übersieht er aber eine Qualität dieses Formats, die mehr als geschätzt werden sollte: das kollektive Erleben nämlich.

Neue gemeinschaftliche Räume

Der große Vorteil – und wahrscheinlich sogar der wichtigste -, den der Liveticker den LeserInnen nämlich bieten kann, ist das gemeinsame Mitverfolgen und Erleben von Nachrichten. Ja, wir wollen zwar alle so schnell wie möglich von relevanten Ereignissen erfahren, aber das sollte sowieso eine Basisleistung von Online-Medien sein.

Viel spannender ist zu sehen, was andere darüber denken, oder auch einfach nur zu sehen, dass man bei der Informationskonsumation nicht alleine ist. Fußball, “Tatort”, aber auch das Hochwasser sind Dinge, die bewegen. Gerade deswegen tauschen sich die User auf Twitter und Facebook darüber aus und schaffen so virtuelle Beisln, Stammtische, an denen gelacht, gestritten und diskutiert wird.

Die LeserInnen schätzen das Format Liveticker deshalb so sehr (der Erfolg lässt sich leicht an Zugriffszahlen und tausenden Kommentaren messen), weil der individualisierte Medienkonsum, der auch aus individualisierten Lebensgestaltungen resultiert, kaum mehr kollektive Ereignisse zulässt: Jede(r) sieht die eigene Lieblingsserie dann, wann er oder sie will, und hört die geschätzte Radiosendung im Podcast nach.

Dass gerade bei großen Online-Medien die UserInnen wieder zusammenfinden, ist eigentlich amüsant – war das Zeitunglesen doch immer eine individuelle Angelegenheit, die Abschottung garantierte. Man denke an Familienmitglieder, die sich hinter der Zeitung verschanzen und somit als nicht mehr ansprechbar gelten.

Der Liveticker nimmt niemandem etwas weg

Abgesehen davon, dass der Liveticker zumindest bei derStandard.at bereits ein Kind der 90er Jahre ist, also keineswegs als “neu” einzustufen, unterstellt Trotier dem Format auch, dass es per se die “Deutungsmacht” des Journalismus untergrabe. Das mutet ein wenig eigenartig an – als habe je ein Liveticker eine kritische Analyse oder einen Hintergrundtext zum gleichen Thema verhindert.

Der angebliche Verlust der “Deutungsmacht” findet zudem einfach nicht statt. Geradezu das Gegenteil ist der Fall: Ein Liveticker ist in vielen Teilen Kommentar, Interpretation und Meinung, sowohl auf der Absenderseite als auch auf Userseite. Das Ganze noch dazu live zu betreiben ist noch dazu mutig, da hier keine Chefinstanz die Meinung der live Tickernden kontrollieren kann.

Dass auch dieses Format Grenzen hat, die etwa oe24.at beim Liveticker eines Begräbnisses überschritt, sollte sich von selbst verstehen und wird hier der Vollständigkeit halber am Rande erwähnt.

Schnelligkeit und kritischer Journalismus

Ja, die UserInnen wollen die Nachrichten so schnell wie möglich lesen, und das ist auch ihr gutes Recht, genauso wie es ihr gutes Recht ist, im Anschluss an Geschehenes Einordnungen, Kommentare oder Reportagen dazu zu lesen. Der Liveticker ist ein Format, das als wertvolle Ergänzung zu kritischem Journalismus gesehen werden sollte – mit dem Vorteil, dass er neue Formen der Gemeinschaft ermöglicht. Und wer jetzt sagt, dass Online-Gemeinschaften schräg sind, der findet es wahrscheinlich auch eigenartig, wenn sich Paare im Internet kennenlernen. Für jene gibt es zum Glück auch noch analoge Beisln. Dort verfolge ich dann den nächsten Fußball-Liveticker bei einem Schnitzel. (Lisa Stadler, derStandard.at, 10.6.2013)

  • July 25, 2013