Warum Sartre ein Twitter-Star wäre

In den letzten Wochen habe ich Sartre (erneut) für mich entdeckt. Bei der Lektüre seiner Briefe wird unter anderem eines klar: Es ist umso mehr schade, dass Sartre nicht mehr lebt, weil er mit Sicherheit ein Twitter-Superstar gewesen wäre. Für ihn und Simone de Beauvoir spielte die Mythologisierung des eigenen Lebens eine große Rolle: Sie schrieben sich ihr Leben sozusagen selbst: Hazel Rowley beschreibt das in “Tête -à-Tête: The Tumultuous Lives and Loves of Simone de Beauvoir and Jean-Paul Sartre” folgendermaßen:

“Both were heavily imbued with what Sartre called ‘the biographical illusion’ – the idea that ‘a lived life can resemble a recounted life’. Already in their adolescence they dreamed of their future lives as if through the eyes of posterity.”

Genau diese “biographical illusion” erheischt die meisten jener, die soziale Netzwerke nützen, jetzt auch. Durch die Erzählungen, die dort gepostet werden, bauen sich die User die eigene Biografie so, wie sie sie sich wünschen. Und viele werden sich wohl schon bei dem Gedanken darüber erwischt haben, wie gewisse Postings wohl in ein paar Tagen, Monaten, Jahren wirken mögen. Sartre schrieb private Briefe mit dem Wissen, ja gar dem Wunsch, dass diese einmal veröffentlicht werden. Diese Haltung punkto Mitteilungsbedürftigkeit und Privatheit hängt natürlich eng mit seiner Ideologie zusammen. Rowley:

“As existentialists, they believed that individuals are no more or less than the sum total of their actions, and offered themselves up willingly to the judgment of posterity. […] To them, the notion of privacy was a relic of bourgeois hypocrisy. […] ‘It wouldn’t occur to me to get rid of letters and documents concerning my private life’, Sartre said. ‘So much the better if this means I will be … transparent to posterity … I think that transparency should always be substituted for secrecy.'”

Briefe dienten Sartre als Möglichkeit der Transkription des unmittelbaren Lebens, hätte er also einen Twitter-Account und einen Blog gehabt, hätte das natürlich dort stattgefunden. Mit mindestens so vielen Followers wie Salman Rushdie sie hat. “Ich schreibe jetzt überall, wo ich mich niederlasse, Briefe […] Man könnte es briefliche Überbeanspruchung nennen”, schrieb er etwa Simone de Beauvoir (Jean Paul Sartre. Briefe an Simone de Beauvoir 1, 1984, S. 114) Oversharing wäre mit Sicherheit eines der Probleme des Sartre im Jahre 2012.

Ist exzessives lebensbegleitendes Posten also vielleicht eh ein alter Hut und keine neue Neurose des 21. Jahrhunderts? Wären abermillionen Briefe, Reiseberichte, Tagebücher – hätte es die Möglichkeit des Postens via soziale Netzwerke damals schon gegeben – im Web gelandet? Wahrscheinlich schon.

  • December 2, 2012
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